1000 Peitschenhiebe by Raif Badawi

Autor:Raif Badawi
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2014-12-31T16:00:00+00:00

Ist Liberalismus gegen Religion?

Erschienen im Mai 2012

in »al-Dschasira«

Um diese Kernfrage drehte sich eine Debatte bei einem öffentlichen Treffen, ausgehend von einer Reihe von Artikeln, die ich zum Thema Liberalismus verfasst hatte. Ein Großteil der Teilnehmer insistierte darauf, dass Liberalismus grundsätzlich gegen alle Religionen sei, vor allem gegen den Islam. Man sprach über den Liberalismus, als sei er seinerseits eine Religion. Und genau hier liegt das Problem des oberflächlichen Verständnisses von Liberalismus im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft, die in einer Kultur des ein­spurigen Denkens erzogen wurde und lebt. Liberalismus bedeutet Blasphemie, Apostasie, moralischer Verfall, FKK-Strände, Homo-Ehe und ähnliche Schlagwörter, die in den Köpfen der Gesellschaft schlimme Assoziationen hervorrufen; als wären diese Praktiken das einzige und wahre Gesicht des Liberalismus. Ein französischer Schriftsteller beschrieb das Konzept des Liberalismus einmal folgendermaßen: »Trotz seiner vielfältigen Bedeutungen, und trotz späterer Entwicklungen, die unsere Wahrnehmung von ihm nachhaltig beeinflusst haben mögen, lässt sich der Liberalismus auf folgende Schlüsselidee herunterbrechen: Die Menschheit hat das Erwachsenenalter erreicht und kann sich nun allein um ihre Angelegenheiten kümmern, ohne fremde Vormundschaft. Ein politisches System mit einem liberalen Ansatz steht der Fähigkeit des Menschen, Fortschritt durch Dialog und Korrigieren seiner Fehler zu erlangen, optimis­tisch gegenüber. Der Liberalismus konzentriert sich grundsätzlich auf die Prinzipien der individuellen Freiheit und des Respekts vor der Freiheit der anderen. Liberalismus bedeutet gegenseitige, umfassende Toleranz – unter der Bedingung, dass er weder zu einem allgemeinen Skeptizismus oder andererseits totaler Empathielosigkeit ausartet. Denn der Liberalismus hat einen Glauben: den Glauben an den Fortschritt. Es ist seine Überzeugung, dass Freiheit an sich gut ist und nach dem Guten strebt, dass Wahrheit im Dialog entsteht und dass eine unendliche Verbesserung die natürliche Bewegungsrichtung der Menschheit ist.«

Ja, vernünftige und rationale Menschlichkeit ist der einzige Katalysator und Motor für den Aufbau von Gesellschaften unter dem Vorzeichen der Toleranz, Kreativität, Kunst und technologischer Entwicklung. Keine wie auch immer geartete Religion kann menschlichen Fortschritt bewerkstelligen. Das ist nicht etwa irgendeinem Mangel der Religionen zuzuschreiben, sondern ganz einfach der Tatsache, dass Religionen eben Religionen sind, sprich: persönliche und intime spirituelle Beziehungen zwischen Individuum und Schöpfer. Der heilige Koran ist ein großartiges Buch für die reine Anbetung des Herrn. (*) Also sind menschengemachte Gesetze gesellschaftlich unentbehrlich. Das Straßenverkehrssystem, das Arbeitssystem, die Systeme der Verwaltung aller verschiedenen Bereiche eines Staates – all das kann unmöglich von der Religion bedient werden.

Der Liberalismus bietet alles, was den individuellen Freiheiten ihr Dasein gewährt. Auch die Freiheit der Religionsausübung ist durch ihn garantiert. Jedoch zwingt er der Gesellschaft nicht irgendeinen bestimmten spirituellen Ansatz auf durch Bevormundung oder Tyrannei. Niemand muss bestimmte Rituale unter psychischem Druck oder emotionaler Erpressung ausführen. Das ist ein Gewinn, kein Zugeständnis oder Kompromiss.

Die größten Polemiker gegen den Liberalismus sind Islamisten und eine Handvoll westlicher Rechtsextremisten und europäische Reaktionäre aus dem Mittelalter, die gegen die Französische Revolution und für Kirche und Feudalismus waren.

Im Verständnis des Liberalismus sind Religionen nichts weiter als persönliche Entscheidungen. Der liberale Staat ist ein Staat ohne Religion. Was nicht heißt, dass er atheistisch ist. Sondern dass er die Rechte aller Religionen bewahrt, sie fördert

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